Asylpolitik Festung Nordeuropa - und die Migranten bleiben in Deutschland

Stand: 16.11.2023 | Lesedauer: 6 Minuten

Von Johanna Sahlberg

Die nordischen Länder verstärken ihre Zusammenarbeit im Bereich Migrationspolitik und wollen bald gemeinsame Abschiebeflüge organisieren. Das einst so offene Nordeuropa steuert gemeinsam um - auch unterstützt von den Sozialdemokraten. Erste Folgen sind bereits in Deutschland spürbar.

Viele Migranten machen sich schon gar nicht mehr auf den Weg bis nach Nordeuropa
Quelle: picture alliance / dpa

Nordeuropa vertieft seine Wende hin zu einer restriktiven Asylpolitik. Schweden, Dänemark, Norwegen, Finnland und Island haben sich auf gemeinsame Rückkehrprogramme geeinigt, um die Abschiebung von Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung zu erleichtern. Auf einem Treffen in Kopenhagen Ende Oktober beschlossen die Justiz- und Migrationsminister der Länder, künftig gemeinsame Abschiebeflüge zu organisieren - mit Unterstützung der EU-Grenzschutzbehörde Frontex.

Die zuständigen Minister einigten sich auch auf ein gemeinsames Hilfsprogramm für "illegale Migranten" in Nordafrika. Wenn sie freiwillig in ihr Herkunftsland zurückkehrten, statt in Richtung Europa weiterzureisen, werde ihnen Hilfe bei der Wiedereingliederung angeboten, sagte der dänische Einwanderungsminister Kaare Dybvad Bek.

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Zwar haben die Länder bei ihrem Treffen ganz spezielle Maßnahmen beschlossen. Doch markiert die Ankündigung auch ganz allgemein einen Wendepunkt Nordeuropas in der Frage, wie man künftig mit Migration umgehen will. Dieser dürfte auch eine Signalwirkung für die EU haben, deren Mitgliedsländer um eine gemeinsame Asylpolitik ringen.

Und auch für Deutschland ist die Entwicklung bedeutsam: Statistiken legen nahe, dass viele Migranten sich mittlerweile gar nicht mehr auf den Weg nach Nordeuropa machen - sondern lieber gleich in der Bundesrepublik bleiben. Auch sie spüren, dass eine neue Einigkeit und Entschlossenheit in die nordeuropäische Migrationspolitik Einzug gehalten hat.

Quelle: Infografik WELT

Henrik Emilsson, Forscher für internationale Migration an der Universität im schwedischen Malmö, bestätigt im Gespräch mit WELT, dass die nordischen Länder inzwischen geeinter sind denn je, nachdem ihre Migrationspolitik lange Zeit eher einem Flickenteppich geglichen hatte.

"Dänemark hatte immer die härteste Migrationspolitik, Schweden die offenste, und Norwegen lag stets irgendwo dazwischen", sagt er. Der Forscher erzählt, dass Schweden vor allem für die Dänen und manchmal auch für Norweger und Finnen als abschreckendes Beispiel galt; dass man in Schweden zu lasch gewesen sei und deshalb heute große soziale und sicherheitspolitische Probleme hätte. "Heute gibt es einen Konsens, den es lange nicht gegeben hat", so Emilsson.

Um die Jahrtausendwende hatten die späteren Extrembeispiele Dänemark und Schweden begonnen, sich in der Frage der Einwanderung auseinanderzuentwickeln: Dänemark verfolgte eine restriktive Asylpolitik, die sowohl von konservativen als auch Mitte-Links-Regierungen mitgetragen wurde. Als 2019 die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Mette Frederiksen an die Macht kamen, verschärften sie den Kurs noch weiter.

Schweden dagegen blieb zunächst bei seinem traditionell liberalen Asylrecht: Für Flüchtlinge galt ein unbefristetes Bleiberecht, Zuwanderer hatten die gleichen Rechte wie Staatsbürger und vollen Zugang zum Sozialsystem. Nur die rechten Schwedendemokraten, damals noch eine Kleinstpartei, hoben den dänischen Nachbarn als Vorbild heraus.

Erst infolge der Migrationskrise ab dem Jahr 2015 begann in Schweden eine Wende: Die Regierung verschärfte erstmals das Asylrecht und schaffte das unbefristete Bleiberecht ab. Nun zogen auch die schwedischen Sozialdemokraten mit, doch im vergangenen Herbst wurden sie trotzdem von einer konservativen Regierung abgelöst, die auf die Kooperation mit den starken Rechtsnationalen angewiesen ist.

Heute reisen nicht nur sie nach Dänemark, um sich in Sachen Migrationspolitik inspirieren zu lassen, sondern sogar die oppositionellen Sozialdemokraten. Der südliche Nachbar wird mittlerweile parteiübergreifend als Vorbild betrachtet. "Schweden ist von dem Wunsch, ein liberales Beispiel für die gesamte EU abzugeben, zu der Rhetorik übergegangen, dass es so streng ist, wie es internationale Konventionen erlauben", so Emilsson. Man wolle die Migrationspolitik generell deutlich verschärfen und sogar die Aufnahme von Flüchtlingen künftig auf ein Minimum beschränken.

Wandel der nordischen Sozialdemokratie

Er unterstreicht, dass man bei den nordischen Ländern nicht mehr von einer Rechts-Links-Dimension sprechen kann: "DieSozialdemokraten in Dänemark sind schon lange knallhart. Und in Schweden gibt es keine sozialdemokratische Gegenwehr mehr gegen eine härtere Kriminalitäts- und Migrationspolitik."

Das größte Land Nordeuropas wird seit Jahren von blutigen Auseinandersetzungen zwischen migrantisch dominierten Gangs heimgesucht, bei denen immer wieder auch Unbeteiligte sterben oder verletzt werden. Parallel legt Schweden deshalb auch eine Law-and-Order-Wende hin, verschärft Gesetze und stockt die Polizei auf.

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Anders als man hätte erwarten können, machen auch die norwegischen Sozialdemokraten von Ministerpräsident Jonas Gahr Store keine Anstalten, zu einer weicheren Haltung zurückzukehren, nachdem sie 2021 die Macht von einer rechten Koalition zurückerobert hatten. Acht Jahre lang hatte dort die dezidiert fremdenfeindliche Fortschrittspartei mitregiert.

Experte Emilsson meint, dass Norwegen nie die gleiche scharfe Rhetorik wie Dänemark benutzte, in seiner Migrationspolitik aber definitiv mehr an die südlichen Nachbarn angelehnt war als an Schweden. "Mittlerweile sind Sozialdemokraten in keinem der nordischen Länder eine Kraft, die sich für eine offene Migrationspolitik einsetzen", so der Forscher.

Schweden als entscheidender Faktor

Finnland hatte im Vergleich zu seinen skandinavischen Nachbarn immer deutlich weniger Asylbewerber. Auch ist die Zahl der Anträge seit dem Ende der Flüchtlingskrise wieder stark zurückgegangen. Das Thema Migration war deshalb nie so zentral wie in anderen nordischen Ländern.

Die neue Mitte-Rechts-Koalition, die im Juni Ministerpräsidentin Sanna Marin aus dem Amt kegelte, spricht trotzdem von einem Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Mit dabei sind die migrationsfeindlichen "Wahren Finnen", die mit dem Innen- und Justizministerium zentrale Ressorts besetzen. Die Flüchtlingsquote will die neue Regierung auf 500 Personen pro Jahr halbieren.

Die Tatsache, dass die nordischen Länder im Bereich der Zuwanderung zusammenarbeiten, ist an sich nicht neu, sagt Emilsson. Schon 1954 führten sie einen gemeinsamen Arbeitsmarkt und die Passfreiheit ein, und es wurde als logisch angesehen, eine gemeinsame Migrationspolitik zu verfolgen. "Seitdem treffen sich Minister und Beamte jedes Jahr, um über Migrationspolitik zu sprechen und sich, so weit möglich, zu koordinieren."

Der Forscher merkt jedoch an, dass es noch vor zehn Jahren absolut keinen Konsens beim Thema Einwanderung gab. "Heute gibt es diesen, gerade weil Schweden seine Position so stark verändert hat."

Wenn alle Absichten umgesetzt werden, die die neue Regierung in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt hat, werde Schwedens Einwanderungspolitik bald sogar "wesentlich strenger als in Finnland und Norwegen und viel strenger als in Deutschland und Frankreich" sein, so Emilsson.

Der Wandel zeigt bereits Wirkung, wie aktuelle Zahlen beweisen: Während die Zahl der Asylbewerber in Europa im vergangenen Jahr drastisch gestiegen ist - in Deutschland in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 sogar um 80 Prozent - fiel der Wert in Schweden im Vergleich mit dem Vorjahr um 25 Prozent.

Bei diesen Zahlen gibt es einen bemerkenswerten Zusammenhang, der auf die Folgen der unterschiedlichen Asylsysteme hinweist. "Heute sehen wir, dass immer mehr Asylbewerber in Deutschland bleiben; sie ziehen nicht durch Dänemark nach Schweden weiter, weil es keinen Grund mehr dazu gibt. Deutschland bietet mindestens so guten Schutz wie Schweden", meint Emilsson. Von der einst so attraktiven Einwanderungsregion in Nordeuropa sei kaum noch etwas übrig geblieben.


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